Wahre Giganten

Blauwal-Forschung auf den Azoren: eine Woche mit Richard Sears. Im Schlauchboot.

Ein Blauwal ziemlich nah an unserem Boot. Richard Sears versucht trotzdem, die Distanz noch ein bisschen zu verkürzen.. Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Walfahrt: Azoren

Rund ums Boot wird es hell, das Wasser schimmert türkis. Der Blauwal ist jetzt direkt unter uns. Acht Meter Schlauchboot, 24 Meter Blauwal.

Ich versuche nicht darüber nachzudenken, was passiert, wenn er genau jetzt auftaucht. Er schwimmt unter uns hindurch, es dauert eine Weile. Als er hoch kommt, erschrecke ich ein bisschen, so laut ist sein Blas. Er dreht sich auf die Seite und rudert mit der Fluke neben dem Boot herum. Es ist eine große Fluke, viel größer als bei allen anderen Walen, die ich bislang gesehen habe. Ich überlege lieber nicht, was passiert, wenn er damit jetzt das Boot trifft.

Es ist Frühjahr, ich bin auf den Azoren, 15 Kilometer vor der Küste von Pico. Die ganze Woche schon fahre ich mit Richard Sears in einem kleinen Schlauchboot zwischen den Blauwalen herum. Jeden Tag, stundenlang. Die Azoren sind im Frühjahr der ideale Ort dafür, und Richard Sears ist der ideale Begleiter.

Sears ist Blauwal-Forscher, schon seit vierzig Jahren. Er hat den Beruf selbst erfunden. Mitte der Siebziger war er seinem ersten Blauwal begegnet, zwei Jahre vor meiner Geburt. Dabei ist ihm aufgefallen, dass sich Blauwale anhand ihrer Farbmuster eindeutig identifizieren lassen. Seitdem identifiziert Richard Sears Blauwale.

Die verschiedenen Wale, die man rund um die Azoren rein theoretisch sehen kann. Wenn man mit Richard Sears unterwegs ist, sollte man sich vor allem für den Blauwal begeistern können. Das ist allerdings nicht wirklich schwer. Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

In der Maximal-Version können Blauwale auf über 30 Meter und gut 200 Tonnen kommen, sie sind die größten Tiere, die je auf diesem Planeten gelebt haben, inklusive der Dinosaurier. Sehr viel mehr weiß man allerdings nicht, das meiste sind Vermutungen. „Wir wissen es einfach nicht“, ist ein typischer Satz von Sears – und er klingt dabei nicht resigniert, sondern fasziniert.

1979 hat Sears in Quebec die Mingan Island Cetacean Studies gegründet, dort startete er auch die weltweit erste Langzeit-Beobachtung. Andere folgten seinem Beispiel mit ähnlichen Studien in Kalifornien, Australien und im Indischen Ozean. Die Technik verbesserte sich – Unterwasser-Mikrofone, Satelliten-Tags, DNA-Analysen – trotzdem blieben die Blauwale ein großes Mysterium.

Das gesicherte Wissen über das größte Lebewesen unseres Planeten ist ziemlich dürftig. Man weiß beinahe nichts. Wirklich wahr!

Wie viele gibt es überhaupt? Und wo? Wie und wozu verständigen sie sich? Wo und wie bekommen sie Nachwuchs? In der Blauwal-Forschung sind ziemlich grundlegende Dinge noch nicht abschließend geklärt. Auch z.B., was Blauwale eigentlich im Winter machen. Wo sie sich da aufhalten. Man weiß das tatsächlich nicht. Das größte Tier aller Zeiten: jeden Winter einfach komplett verschwunden, wie vom Meeresboden verschluckt!

Sicher, es gibt für alles Vermutungen und oft auch gesicherte Annahmen. Aber gemessen daran, dass die Menschheit kleine Roboter auf den Mars schießt, über selbstfahrende Autos verfügt und an der künstlichen Intelligenz herumbastelt, ist das wirkliche Wissen über den größten Bewohner dieser Erde dann doch etwas dürftig.

Auch nach vierzig Jahren Blauwal-Forschung gibt es also wahnsinnig viel zu tun für Richard Sears. Und genau deshalb ist er jetzt hier, auf den Azoren, gut 15 Kilometer vor der Küste von Pico. Und ich darf dabei sein, im Schlauchboot. Eine Woche im Leben eines Wal-Forschers!

Die Blaslöcher eines Blauwals. Die Spannweite der Sturmtaucher vor ihm beträgt 1,15 Meter. Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Azoren: Blauwale

Wir sind seit gut fünf Stunden auf dem Wasser, und alle paar Minuten taucht irgendwo ein Blauwal auf. Es ist einiges los hier.

Oft sind es zwei, manchmal habe ich sogar drei gleichzeitig gesehen, sie sind mal hier, mal dort, und insgesamt habe ich keinerlei Überblick, wie viele verschiedene Tiere hier gerade so herum schwimmen. Ich freue mich einfach. In all den Jahren zuvor habe ich erst ein einziges Mal einen Blauwal gesehen. Und jetzt gleich so viele!

Es gibt nur noch ein paar Tausend Blauwale auf der Welt. In der Zeit des Walfangs hat sich der Mensch sehr große Mühe gegeben, sie komplett auszurotten. Wegen ihrer Fettschicht. Daraus hat man Öl gemacht. Und Seife. Und alle möglichen anderen Dinge. Wahrscheinlich wurden damals 99 Prozent aller Blauwale vernichtet. Und die Bestände erholen sich nur langsam.

Sears sagt, dass wir heute bislang sechs verschiedene Tiere gesehen haben. Ich kann einen Blauwal problemlos von einem Finn-, Pott- oder Buckelwal unterscheiden – Sears jedoch kann einzelne Individuen auf den ersten Blick voneinander unterscheiden. Und er weiß sofort, ob er sie zuvor schon mal gesehen hat. Manche kann er sogar direkt namentlich benennen.

Sears teilt die Farbmuster in verschiedene Kategorien ein. Grob geht es darum, ob sie eher gleichmäßig oder ungleichmäßig sind und ob sie eher seitlich verlaufen oder eher von oben nach unten. Diese Muster sind die Referenz, darauf achtet er. Fluken und Finnen können durch Unfälle oder Kämpfe beschädigt werden. Das Muster bleibt immer gleich.

Sears kann einzelne Blauwale auf den ersten Blick voneinander unterscheiden. Er weiß sofort, ob er sie zuvor schon mal gesehen hat. Manche kann er sogar direkt benennen.

Sears‘ Kategorien heißen „balanced“, „merge“ und „tiered“, es gibt aber auch Kombinationen wie „merge-balanced“, „tiered-merge“ und „multi-merge“. Das System ist nicht unbedingt selbsterklärend, Sears hat aber alles im Kopf. Bei den Walen, die wir bislang gesehen haben, fallen mir durchaus Unterschiede auf, das schon. Einprägen kann ich sie mir aber nicht.

Während für mich also alle paar Minuten irgendwo ein anderer Blauwal auftaucht, hat Sears hier ganz konkret ein Weibchen ausgemacht, das von einem Männchen begleitet wird, das wiederum von wechselnden anderen Männchen herausgefordert wird. Außerdem hat Sears noch zwei Tiere gesehen, die gerade einfach nur auf der Durchreise sind. Es ist einiges los hier.

Allerdings kann sich Sears bei alldem nie so richtig sicher sein. Der einzige Weg, Blauwal-Männchen von -Weibchen zu unterscheiden, ist eine DNA-Analyse. Und Sears darf seine Biopsie-Gewehre auf den Azoren nicht benutzen. Alles, was er hier hat, ist seine Erfahrung, die auf jahrelangen Beobachtungen und DNA-Analysen in Quebec basiert.

Wenn die Blauwale nah am Boot sind, versucht Richard Sears sie unter Wasser zu filmen. Er und seine GoPro werden jedoch ziemlich sicher keine Freunde mehr. Video: Oliver Dirr / Whaletrips

Wann immer Sears im kanadischen Saint Lawrence ein Tier gesehen hat, das von einem anderen verfolgt wurde (und er DNA-Proben nehmen konnte), war das anführende Tier beinahe immer das Weibchen, das verfolgende immer das Männchen. Sears ist sich sicher, dass es auf den Azoren genauso ist. Aber er wird nie den Beweis bekommen. Es macht ihn wahnsinnig.

Plötzlich eine Mischung aus Gischt, Wellen, Flippern und Fluken. Sears jubelt: „Das ist ein Rumba!! Das wird interessant!“ Ein Rumba ist ein Duell (mutmaßlich!) zweier Männchen. Sie liefern sich ein Rennen, drängen sich ab und schlagen mit der Fluke aufeinander ein. Das (vermutete!) Weibchen schwimmt weiter vorneweg und wartet, wer das Rennen macht.

Ich muss an Jurassic Park denken. An diese riesigen Saurier, wenn sie im Kampf aufeinander prallen. Naturgewalten, da bebt die Erde. So etwas passiert hier gerade auch. Nur unter Wasser. Man muss sich das meiste einfach vorstellen. Und zwischendrin gut aufpassen, dass man mit dem Boot nicht zwischen die Fronten gerät.

Der gewaltige Blas eines Blauwals – er steigt ungefähr so hoch wie ein fünfstöckiges Wohnhaus. Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Azoren: Im Boot

Ein Blas, 300 Meter im Süden. Einer im Norden, gut 600 Meter. Irgendwo im Westen ist auch noch etwas. Ich habe den Überblick verloren.

Allerdings nicht nur ich, offenbar auch unser Skipper Pedro. Er will nämlich nach Norden. Denn seiner Meinung nach ist das der Wal, den wir gerade beobachten. Sears ist anderer Meinung:

„Pedro, warte! Das ist nicht unser Wal!“
„Was? Doch! Das ist genau die Richtung, in die er eben abgetaucht ist!“
„Ja, aber das ist er nicht. Ich glaube, die sind gekreuzt!“
„Bist du sicher, Richard?“
„Ja. Das ist der von vorhin. Den haben wir schon. Lass uns hier warten.“

Pedro macht auf mich einen sehr kompetenten Eindruck, und ich bin sicher, dass er heute nicht zum ersten Mal hier draußen ist. Aber Sears ist der einzige, der hier zu jeder Zeit den kompletten Überblick zu haben scheint. Wie viele Blauwale sind hier gerade unterwegs? In welcher Richtung? Was machen sie? In welcher Kombination? Und warum?

Auf den Azoren geht es vor allem um Foto-Identifikation. Richard Sears würde wahnsinnig gern auch DNA-Proben nehmen, wie zuhause in Québec. Das ist auf den Azoren aber nicht erlaubt, nichtmal für Richard Sears. Es macht ihn wahnsinnig. Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Wir warten. Sears schaut nach Osten. Ein paar Minuten später ein Blas. „Da!! Das ist er! Das ist unser Wal!“ Pedro startet den Motor, Sears greift zur Kamera und klopft in Pedros Richtung auf seine rechte Hüfte. Er braucht noch die rechte Seite des Wals und die Sonne möglichst im Rücken. Pedro muss entsprechend an den Wal heranfahren.

Buckelwale lassen sich über ihre Schwanzflosse bestimmen, Orcas über ihre Rückenflosse, Blauwale über ihr Muster. Bei Buckelwalen und Orcas reicht ein Foto. Bei Blauwalen braucht man vier, so groß sind sie. Links vorne, rechts vorne, links hinten, rechts hinten. Einer von sieben zeigt beim Tauchen außerdem die Fluke. Die braucht man dann auch.

Alles muss schnell gehen, man hat immer nur ein paar Atemzüge Zeit, dann muss man wieder warten und hoffen, dass der Wal beim nächsten Mal irgendwo in der Nähe auftaucht. Blauwale können in ein paar Minuten ziemlich Strecke machen. Wenn man selbst 25 Meter lang ist, sind ein paar Kilometer keine Distanz.

Sobald wir einen Blas am Horizont sehen, gibt Pedro Gas. Er will keine Zeit verlieren und schnell in Foto-Reichweite sein. Sears erklärt ihm, dass er viel langsamer an den Wal heranfahren muss, weil der Wal dann entspannter ist und länger an der Oberfläche bleibt. Pedro ist zunächst skeptisch, probiert es aber aus. Sears behält Recht.

Es dauert trotzdem eine Weile, bis man so einen Blauwal von allen Seiten gut fotografiert hat. Auch Sears gelingen nicht immer gleich im ersten Versuch brauchbare Bilder.

Buckelwale lassen sich über ihre Fluke bestimmen, Orcas über ihre Finne, Blauwale über ihr Muster. Bei Buckelwalen und Orcas genügt ein Foto. Bei Blauwalen braucht man vier. So groß sind sie.

Nach manchen Sichtungen fragt Sears ab, was wir gerade gesehen haben. Nicht, weil er es nicht gesehen hätte, sondern weil er will, dass wir hier etwas lernen. Das geht dann so:

„Also: Was habt ihr gerade gesehen? Schnell!!“
„Ähm … naja, der Wal ist zweimal aufgetaucht und …“
„Aber was ist euch aufgefallen? An was erinnert ihr euch?“
„Die Rückenflosse!!“
„Was war mit der Rückenflosse?“
„Die war geschwungen! Stark geschwungen! So sichelförmig!“
„Gut! Richtig! Was noch?“
„Puh, das ging so schnell alles …“
„Was hatte er für eine Farbe?“
„Hmm, also eher so …“
„Eher hell oder dunkel?“
„Ähm, … eher dunkel, oder?“
„Nein! Hell, der war ganz hell!
„Oh!“
„Auf sowas müsst ihr achten! Je schneller ihr das Tier beim Auftauchen erkennt, desto besser könnt ihr euch auf sein Verhalten konzentrieren.“

Ich nehme mir vor, mir beim nächsten Mal alles besser einzuprägen. Auf noch mehr Details zu achten. Die ganze Situation komplett abzuspeichern. Es ist aber nicht so einfach. Der Wal ist immer nur ein paar Sekunden an der Oberfläche. Und ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt, wie riesig er ist. Oft starre ich ihn auch einfach nur an.

Auf den Azoren gelernt: Um Blauwal-Fluken komplett ins Bild zu bekommen, muss man rauszoomen. Blauwal-Fluken sind recht groß. Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Azoren: Mr. Sears

Nach jeder Sichtung macht sich Sears Notizen. Er hat ein kleines Buch, da schreibt er alles rein, was ihm gerade aufgefallen ist. Seitenweise.

Ich habe Sears ein paarmal dabei fotografiert. Wie er da sitzt und schreibt, mitten auf dem Ozean. Irgendwann habe ich aber angefangen, nicht mehr ihn, sondern seine Notizen zu fotografieren. Ich wollte ihn nicht stören, aber eben doch gern wissen, was er da die ganze Zeit schreibt.

Und ich glaube, ich habe erst durch diese Notizen halbwegs verstanden, was Sears da für eine Arbeit macht. Wie irre kleinteilig das alles ist, wie mühsam, und mit welcher Geduld und Selbstverständlichkeit er sich da immer wieder dransetzt. Seit vierzig Jahren. Und ja, schon auch: Was das für eine Lebensleistung ist.

Beobachtungen und Erkenntnisse eines höchst erfolgreichen Vormittags: »11:20 bm2 and bm3 join up briefly, then split. | 12:44 bm3 much bigger than bm2, tiered chevron. | 12:59 bm2 is confirmed as bm that approached bm3« Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Sears bastelt seit vierzig Jahren an einem gigantischen Puzzle, das sich aus Millionen kleiner 10-Sekunden-Momente zusammensetzt, in denen er die Tiere, die er erforscht, wenigstens überhaupt mal zu Gesicht bekommt. Denn 99 Prozent von allem, was er wissen will, findet komplett außerhalb seiner Reichweite statt. Entweder tief unter der Oberfläche oder weit draußen auf dem Ozean oder beides zusammen, er kommt da jedenfalls nicht hin.

Sears sammelt geduldig jedes noch so kleine Teilchen und versucht daraus ein halbwegs stimmiges Bild zu basteln. Wie wahnsinnig klein diese Teilchen sind und wie mühsam dieses ganze Gepuzzle sein muss, das ist mir so richtig erst beim Blick in seine Notizen klar geworden.

Jede einzelne Sichtung dauert nur ein paar Sekunden – dann heißt es wieder: Warten, Suchen, Hoffen. Sears erzählt, dass ihm auf einer Konferenz mal ein Forscher, der irgendwelche Tiere in der afrikanischen Steppe erforscht, ein bisschen sein Leid geklagt hat. Weil die Tiere ja manchmal hinter einem Busch verschwinden und man dann leider nicht sieht, was dort vor sich geht. Da muss Sears herzlich lachen. Von solchen Verhältnissen kann er nur träumen.

Sears sammelt geduldig jedes noch so kleine Teilchen und versucht daraus ein halbwegs stimmiges Bild zu basteln. Wie wahnsinnig klein diese Teilchen sind und wie mühsam dieses ganze Gepuzzle sein muss, das ist mir so richtig erst beim Blick in seine Notizen klar geworden. Und die Ausdauer, Hingabe, Neugier und Faszination, mit der Sears an diesem Puzzle sitzt, macht mich tatsächlich ein bisschen sprachlos.

Mit ein paar Jahrzehnten Übung lassen sich einzelne Blauwale anhand ihrer Muster eindeutig voneinander unterscheiden. Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Azoren: Walscheisse

Irgendwann geraten wir an einen Wal, der vor jedem Tauchgang, nun ja, scheißt. „Walscheiße! Da ist Walscheiße!! Los, zur Walscheiße!!“

Sears legt Wert auf die Feststellung, dass er nicht von der Walscheiße an sich begeistert ist, sondern von der Tatsache, dass der Wal hier überhaupt scheißt. „Das bedeutet, dass er hier in der Gegend auch frisst. Ein gutes Zeichen!“ Wir schauen uns die Walscheiße genauer an. Walscheiße ist rot. Und Sears will jetzt von uns wissen, warum:

„Leute, weiß jemand, warum Walscheiße rot ist?“
„Wegen dem Krill … Weil Blauwale Krill fressen!“
„Ja, aber warum ist ihre Scheiße dann rot?“
„Ähm, naja … Weil der Krill rot ist?“
„Ja, schon. Aber warum ist die Scheiße rot?“

Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass Krill viel Keratin enthält, das wahrscheinlich auch für die rote Farbe sorgt. Ich traue mich aber nicht, diese wacklige Vermutung hier jetzt vor Richard Sears auszubreiten. Was, wenn Keratin falsch ist? Und was, wenn Keratin richtig ist und Sears eine Folgefrage hat? Zu viel Druck für mich!

Sears legt großen Wert auf die Feststellung, dass er nicht von der Walscheiße an sich begeistert ist, sondern von der Tatsache, dass der Wal hier überhaupt scheißt. Video: Oliver Dirr / Whaletrips

„Also: Warum ist die Walscheiße rot?“
„Hmm, … keine Ahnung, sorry!“
„Okay, es liegt am Keratin. Krill besteht aus Keratin und …“

Und dann erklärt Sears die Sache mit dem Keratin und der Walscheiße. Dass Keratin also dasselbe Material ist wie unsere Fingernägel und Haare, und dass es eine rote Farbe hat, dass die Walscheiße deshalb rot ist und dass Walscheiße insgesamt wegen der vielen darin enthaltenen Nährstoffe auch ein wahnsinnig guter Dünger für die Ozeane und damit durchaus wichtig für das gesamte Ökosystem ist. Jawohl: Walscheiße!

Sears nimmt sich überhaupt viel Zeit, Dinge zu erklären, nicht nur mir und den anderen Gästen, auch den Guides und dem Skipper. Geduldig beantwortet er jede Frage, obwohl er hier ja eigentlich arbeiten muss. Es herrscht durchweg gute Stimmung an Bord, Sears ist witzig und lacht viel – und er kann albern sein, wirklich hochgradig albern, ausgelassen wie ein Kind. Besonders an so walreichen Tagen wie diesen.

Nur einer von sieben Blauwalen zeigt beim Tauchen die Fluke. Und nur an einem von sieben Tagen waren wir genau zur richtigen Zeit in genau der richtigen Position, um das genau so von der Seite zu fotografieren. Sehr happy! Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Azoren: Matching

Nach jeder Tour setzt sich Sears an den Computer und vergleicht die Muster mit dem Katalog. Immer auf der Suche nach einem Match.

In Sears‘ Katalog gibt es zwei Bereiche, einen für den West-Atlantik mit knapp 500 und einen für den Ost-Atlantik mit gut 750 identifizierten Tieren. Wahrscheinlich sind es zwei separate Populationen, Sears ist sich allerdings nicht so sicher: die DNA ist sehr ähnlich, und es gab auch schon Matches. Sears hätte wahnsinnig gern mehr Zeit, das genauer zu erforschen.

Die Tiere, denen wir tagsüber begegnen, gehören zur Ost-Atlantik-Gruppe, sie sind gerade auf dem Weg in die nahrungsreichen Gewässer im Norden: Grönlandsee, Nordmeer, Barentssee. Auf den Azoren machen sie Halt für einen kurzen Snack. Blauwale fressen vor allem im Norden, in den warmen Gewässern gibt es nicht genug Krill.

Sears‘ Katalog wurde vor vierzig Jahren begonnen, und genau so sieht ein Großteil der Fotos auch aus. Es geht hier nicht um Qualität, Ästhetik oder Bildaufbau, es geht ausschließlich um die Erkennbarkeit des Musters. Und es ist Sears auch wirklich komplett egal, ob im Hintergrund eines Blauwals noch ein schöner Vulkan mit Nebelkranz zu sehen ist.

Es ist Sears wirklich komplett egal, ob im Hintergrund eines Blauwals noch ein schöner Vulkan mit Nebelkranz zu sehen ist. Es geht hier um Farbmuster, nicht um Nebelkränze.

Wir fangen an, Muster zu vergleichen. Man blättert da einfach so eine Galerie durch. Ich schlage vor, mal bei Google oder Facebook anzufragen, ob die ihm nicht ihre Software für Gesichtserkennung ausleihen könnten. „Haben wir schon probiert. Funktioniert nicht. Keine Software hat das Matching bislang schneller oder besser hinbekommen als ich.“

In diesem Satz steckt keinerlei Prahlerei, eher Enttäuschung. Sears wäre ziemlich froh, wenn das Matching nicht mehr von Hand gemacht werden müsste. Es würde ihm einige Zeit sparen, die er viel lieber anders verbringen würde: „Alles, was ich will, ist in einem Boot zu sitzen.“

Viele Forscher klagen über zu wenig Zeit im Feld und zu viel Zeit am Schreibtisch. Die meisten kommen auf sechs bis acht Wochen, die sie draußen verbringen. Das ist für Sears keine Option. Vier bis fünf Monate verbringt er im Boot. Jedes Jahr. Drunter macht er es nicht.

Am Matching sitzt er dann wahrscheinlich ebenso lang. Ich habe das hier mal ganz vereinfacht simuliert:

Den Blauwal oben wollen wir matchen, die Galerie unten ist eine Mini-Version des Katalogs, mit Klick auf das Bild öffnet sich die große Version. Wer findet das richtige Match? Und wie lange dauert es? Die Auflösung gibt’s weiter unten.

Wenn man sich jetzt noch vorstellt, dass Sears 1.) in seinem Katalog nicht 12 Bilder hat sondern 1.250, also das Hundertfache dieser Galerie, dass Sears 2.) außerdem von jedem Wal vier Fotos benötigt und nicht nur eines und dass Sears 3.) auch nicht nur einen Wal matcht, sondern immer gleich mehrere – dann bekommt man eine ganz gute Vorstellung davon, wie lang so ein Matching-Abend werden kann.

Wir klicken uns durch den Ost-Atlantik. Am Anfang ist es irre spannend. Nach einer Stunde haben wir jedoch kein einziges Match. Nach zwei Stunden bin ich verwirrt, nach drei Stunden ist mir schwindelig. Überall Muster, alle so ähnlich, alles verschwimmt zu einem graublauen Brei.

Dann plötzlich Aufregung, bei einem Wal kommt mir die markante Finne bekannt vor. Die habe ich schon mal gesehen, gestern! Ich krame in meinen Fotos. Das ist er! Eindeutig dieselbe Finne! Ich zeige Sears das Bild. Er lässt die Finne völlig außen vor, vergleicht nur die Muster.

„Hmm, also ich kann das hier sehen“, er zeigt auf ein paar helle und dunkle Punkte unterhalb der Finne, „und das hier sieht auch gleich aus.“ So geht es eine ganze Weile. Dann nickt Sears. „Ja! Ich glaube, wir haben ein Match. Gut gemacht!“

Big Data ganz im Kleinen, aber irgendwo muss man anfangen. Sears wird mit dieser Arbeit niemals fertig werden. Er macht sie einfach trotzdem.

Mein erstes Match! Ich würde den Wal jetzt gern taufen, aber er hat schon einen Namen: EB 578. Ein Name wie Musik. EB 578 hat ein Muster der Kategorie „tiered-merge“ und wurde zuletzt im März 2011 gesehen. Sogar genau hier auf den Azoren.

Mir war früher nie richtig klar, was man mit Foto-Identifikation alles machen kann. Sears erklärt, dass man mit Langzeitbetrachtungen herausfinden kann, wie viele Wale sich aktuell in einer bestimmten Gegend aufhalten – und tatsächlich auch, wie viele Wale es innerhalb einer Population ganz grundsätzlich überhaupt gibt.

Die Verfahren nennen sich „line-transect“ und „mark-recapture“, am Ende ist es reine Statistik, Big Data ganz im Kleinen, aber irgendwo muss man anfangen. Wenn man Aussagen über eine Population treffen will – und wie man sie schützen kann – muss man erstmal wissen, wie groß sie überhaupt ist und wo genau sie anfängt und endet. Sears wird mit dieser Arbeit niemals fertig werden. Er macht sie einfach trotzdem.

Das richtige Match oben ist Bild #10. Und ist außerdem jemandem aufgefallen, dass die Bilder #02 und #07 sowie #04 und #09 jeweils denselben Wal zeigen?

Blauwal-Fluke mit Vulkan im Nebel. Wissenschaftlich kaum zu gebrauchen. Trotzdem ganz hübsch! Foto: Oliver Dirr / Whaletrips

Azoren: Blauwale

Letzter Tag, Sears reist heute ab. Vierzig, fünfzig verschiedene Blauwale in zwei Wochen, dieses Jahr war eines der besten bislang.

Ich frage Sears, wie er damals überhaupt zu den Blauwalen gekommen ist. Die meisten Menschen, die beruflich etwas mit Walen zu tun haben, antworten auf so eine Frage mit einer emotionalen Geschichte ihrer ersten Begegnung, die eben prägend war und etwas verändert hat, so dass sie von diesem Moment an einfach nichts anderes mehr tun wollten.

Richard Sears jedoch sagt, dass die Blauwale damals halt einfach da waren und es sonst niemanden gab, der es gemacht hat. Also habe er es eben gemacht. Und weil er es gut gemacht hat, ist er dabei geblieben.

Ich bin mir nicht sicher, ob Sears eher eine Leidenschaft für Blauwale hat - oder eine für die Blauwal-Forschung. Ist aber auch egal. Dieser Mann hat genug Energie und Leidenschaft für zwei Forscherleben.

Ich habe während dieser Woche immer wieder mal überlegt, ob Sears eher eine Leidenschaft für Blauwale hat – oder nicht vielleicht doch eher eine für die Blauwal-Forschung. Vielleicht ist es beides, ich bin mir da nach wie vor etwas unsicher. Ist aber auch egal. Dieser Mann hat genug Energie und Leidenschaft für zwei Forscherleben.

Die Szene vom Anfang dieses Textes: Ein Blauwal taucht unter uns hindurch and rudert anschließend mit der Fluke direkt neben dem Boot herum. Ich gestehe, ich war kurz etwas nervös. Video: Oliver Dirr / Whaletrips

Sears steht vor dem Hotel, blickt aufs Meer. Es ist ein phantastischer Tag, strahlende Sonne, spiegelglatte See. Und er muss jetzt wirklich los.

„Bleibst du noch hier?“
„Ja, noch ein paar Tage.“
„Fährst du nochmal raus?“
„Ja, in einer Stunde geht’s los.“

„Ich glaube, in den nächsten Tagen kommt noch ein ganzer Schwung weiterer Wale hier durch. Und innerhalb eines Monats kommen wahrscheinlich schon die ersten Mütter mit ihren Jungen. Ich wünschte, ich könnte jetzt auch noch bleiben. Und da draußen noch mehr Wale finden. Es ist noch so viel zu tun.“

***

PS: Wer selbst einmal ein bisschen mit Richard Sears im Boot sitzen möchte, hat hier die Gelegenheit dazu: Sears hat vor Jahren schon ein Research-Tourism-Programm gestartet, bei dem man das MICS-Team eine Woche lang begleiten kann. Das ganze ist teuer und anstrengend, aber wahnsinnig interessant und lehrreich, und man sieht dabei auch noch direkt, wofür das Geld eingesetzt wird. Research-Wochen sind sowohl auf den Azoren als auch im Saint Lawrence in Québec möglich. Es geht immer um Blauwale – wenn man nett fragt, hält Sears gelegentlich aber auch kurz für Schildkröten, Delfine und andere Wale.

PPS: In unserem Fragebogen verrät Richard außerdem, was für ihn einen perfekten Tag auf See ausmacht und worauf man besonders achten sollte, wenn man selbst vorhat, mal einem Wal zu begegnen.

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